Die Geschichte von der Eisenbahn oder wie Du Dein weinendes Kind völlig anders sehen wirst
Mein 4-jähriger Sohn kletterte ins Bett, sein Gesicht von mir abgewandt zur Wand hin, als er die Frage stellte.
“Wo ist Glenn?”
Seinem Tonfall nach klang die Frage wie ein Nebengedanke, aber ich wusste es besser. Glenn ist das Gegenteil eines Nebengedanken, er ist die Tiger-Knuddeldecke, die mein Sohn mit sich herumträgt, seit er alt genug war, etwas festzuhalten.
Mein Mann bot an, runterzugehen und danach zu suchen, und ich bemerkte abwesend, daß ich Glenn den ganzen Abend über nicht gesehen hatte, was außergewöhnlich war.
Da drehte sich mein Sohn langsam zu mir, ohne Blickkontakt herzustellen; seine Gedanken rasten. seine Augen waren auf irgendeinen Punkt in der Ferne fixiert, während sein Mund mit jedem fliegenden Gedanken zuckte. Seine Augen trafen meine erst, als es ihm klar wurde. Seine Schultern und Rücken streckten sich vor, als er von Panik überrollt wurde.
Schließlich schrie er, “Ich habe Glenn hinten in Gigi’s Auto gelassen!!!”
Gigi war zu diesem Zeitpunkt bereits im Nachbarland, was bedeutete, daß uns die erste Nacht meines Sohnes bevorstand, seit er ein Kleinkind war - die erste Nacht überhaupt in seiner Erinnerung - ohne Glenn in seinen Armen.
Ja, klar hatten wir Glenn schon öfters verloren, aber ihn jedes Mal wiedergefunden, bevor es Schlafenszeit war. Auch wenn es sich mitunter nach stundenlangem Suchen angefühlt hatte. Oder das eine Mal, als mein Sohn Glenn aus dem Autofenster gehalten und versehentlich fallen gelassen hatte, so daß Glenn eine Weile Mutproben auf dem Mittelstreifen einer belebten Straße spielen durfte.
Aber immerhin gab es nie eine Schlafenszeit ohne Glenn.
Der erste Schock war natürlich unmittelbar gefolgt von elektrisierender Wut, die durch den kleinen Körper meines Sohnes strömte. Er schlug in die Luft, biss die Zähne zusammen und schrie, “ICH WERDE OHNE GLENN NICHT EINSCHLAFEN! ICH WERDE NICHT INS BETT GEHEN, BIS ER HIER IST! ICH WERDE NIE MEHR INS BETT GEHEN!” und schlug und biss weiter und warf sich einige Male wütend auf den Boden.
In dem Moment kam mein Mann von seiner erfolglosen Suche zurück und blickte mich fragend an: „Wie gehen wir damit um?“
Ich weiß nicht, ob der Blick, den ich ihm zurückwarf, Selbstbewusstsein, Weisheit und Klarheit ausdrückte, aber ob Du es glaubst oder nicht, das war es, was ich fühlte.
Denn gerade wo ich sie am meisten brauchte, fiel mir die Geschichte von der Eisenbahn ein.
Die lebensverändernde Geschichte von der Eisenbahn
Diese Geschichte war nichts Neues, ich hatte sie während meiner eigenen Therapie kennengelernt Jahre bevor ich selbst Kinder hatte und wir alle haben sie wohl schon als überbeanspruchtes Klischee gehört. Um die Wahrheit zu sagen hatte ich mich immer schwer getan, sie anzuwenden, wenn meine eigenen Emotionen mich übermannten, aber hier, wo sich mein eigenes Kind auf dem Boden wand wie ein Fisch auf dem Trockenen, schien sie die einzig vernünftig Antwort zu sein.
Die Geschichte lautet:
Schwierige Gefühle sind Tunnel, und wir sind Züge, die durch die Tunnel hindurch fahren.
Wir müssen ganz durch die Dunkelheit, um - Du wusstest, daß das kommen wird! - das ruhige, friedliche Licht am Ende des Tunnels zu erblicken.
Das klingt leicht, aber es ist viel leichter gesagt als getan.
Das Problem ist, daß wohlmeinende Eltern oder Bezugspersonen oft versuchen, die Reise unsere Kinder durch diesen Tunnel zu unterbrechen.
Als ich Zeuge des Kampfes meines Sohns mit seiner Wut und Trauer und Angst angesichts seines fehlenden Knuddels wurde, hätte ich leicht sagen können:
„Es ist nur eine Nacht. Morgen holen wir ihn zurück.
Wir haben so viele andere Stofftiere, schlaf’ doch einfach mit einem von denen heute Nacht.
Alles wird gut, das verspreche ich Dir.“
Zweifellos alles wahre Aussagen, aber keine hilfreichen.
Allzu oft, wenn sich unsere Kinder mit schwierigen Gefühlen schwer tun - Trauer, Wut, Angst, Scham, Einsamkeit oder Schuld - versuchen wir ihnen den “vernünftigen, logischen” Weg dort hinaus zu erklären. Wir erklären ihnen, warum sie überreagieren, oder wie WIR uns sicher sind, daß am Ende alles gut sein wird.
Natürlich versuchen wir damit, unseren Kindern zu helfen, aber wenn wir ein wenig unter die Oberfläche schauen, stellen wir wohl alle fest, daß wir UNS SELBST beruhigen wollen. Denn der Schmerz unserer Kinder tut uns selbst so sehr weh, ist so unbequem für uns.
Wir sind es, die möchten, daß das Weinen und Schreien so schnell wie möglich aufhört.
Zurück zu der Geschichte: Wenn Gefühle Tunnel sind und wir die Züge darin, dann MÜSSEN wir den ganzen Weg hindurch zur anderen Seite.
Was wir Erwachsenen gerne tun, wenn wir mit unseren emotionalen Schwierigkeiten konfrontiert sind, ist zu versuchen, den Tunnel vorzeitig zu verlassen - an die Seiten zu schlagen, das hohle Echo zu ignorieren und uns verwirrt fragen, warum wir noch kein Licht sehen.
Manchmal setzen wir uns in die Dunkelheit, schließen die Augen und tun so, als ob wir gar nicht in dem Tunnel sind. Alles ist super, vielen Dank.
Manchmal tun wir jede Menge Anderes - Eis essen, Wein trinken, Shoppen, Marathons laufen, Serien Koma-glotzen, auf dem Handy daddeln oder geistlos durch Facebook scrollen - um uns davon abzulenken, daß wir überhaupt in einem Tunnel sind.
Aber nichts davon bringt uns aus dem Tunnel heraus, oder?
Wenn wir uns endlich erlauben, zu Schreien, zu Heulen, zu Schlagen, Fäuste zu ballen und auf den Boden zu fallen und uns richtig auszuheulen, fühlen wir uns plötzlich so viel besser.
Das gleiche gilt für unsere Kinder. Wir können ihnen keinen geheimen Seitenausgang des Tunnels beibringen, wenn es einen solchen gar nicht gibt. Es gibt keinen Weg hinaus außer hindurch, und es ist unsere Aufgabe, sie dabei zu begleiten.
Deswegen sagte ich gar nichts zu meinem Sohn. Stattdessen setzte ich mich neben ihn, bis die Wellen der Wut und das Zittern und Weinen schmolzen. Als ich dachte, es ist der richtige Zeitpunkt dafür, fing ich an, seinen Rücken zu massieren, immer noch, ohne etwas zu sagen. Er weinte und weinte und weinte.
Als diese Tränen flossen wurde mir klar, daß ich gerade getan hatte, was Gordon Neufeld und Gabor Mate “unsere Kinder zu ihren Tränen tanzen” nennen. In ihrem Buch “Unsere Kinder brauchen uns!” schreiben sie:
“... ein Elternteil muss sein Kind zu dessen Tränen tanzen, zum loslassen, zu dem Gefühl von Ruhe, das mit dem Loslassen einhergeht… [das Elternteil muss] sein Kind im Erleben der Frustration begleiten und Trost geben. Das Ziel sollte nicht sein, eine Lehre zu vermitteln, sondern Frust in Trauer aufgehen zu lassen… Viel wichtiger als unsere Worte ist das Gefühl des Kindes, daß wir mit ihm sind, nicht dagegen.”
Mit diesen Gedanken war ich tatsächlich hoch erfreut, daß mein Sohn schluchzend zitterte, denn ich wußte, daß dies bedeutet, daß er seinen Tunnel durchschreitet statt darin stecken zu bleiben.
Er weinte und weinte und weinte.
Bis er aufhörte, zu weinen.
Bis er, von wo er gespreizt auf dem Boden lag, ein Buch über Weltrekord-Hunde erblickte, es heranzog und anfing, darin zu blättern. Als ob überhaupt nichts passiert war. Ich spitzte auf die Uhr. Acht Minuten waren vergangen.
Ich beschloß, daß es nun OK war, mit ihm zu reden, und so fragte ich meinen Sohn, ob er einen Plan machen möchte. Ich sagte ihm daß ich wußte, daß Schlafengehen heute besonders schwer werden würde, aber vielleicht finden wir gemeinsam ja ein paar Ideen, die ihm dabei helfen werden.
Hätte ich das zwei Minuten früher vorgeschlagen, wäre er explodiert. Aber weil ich wartete, bis sein Zug durch den Tunnel war, war es OK.
Ohne weiteres Fragen oder Drängen von mir suchte mein 4Jähriger zwei andere Stofftiere aus, mit denen er heute Nacht schlafen würde, und fragte mich, ob wir zwei Bücher mehr beim Zubettgehen lesen können, um den Abend noch ein bisschen schöner zu machen.
Später, als ich ihm seinen Gute-Nacht-Kuss gab und er sich zum Einschlafen auf die Seite drehte, sagte er friedlich, “Ich werde heute Nacht gut schlafen.”
Ja, mein lieber Sohn, das wirst Du.
Denn dabei wird Widerstandskraft aufgebaut.
Wäre ich über eine Stunde einfach gefahren, um Glenn zu holen, hätten wir keine Widerstandsfähigkeit aufgebaut.
Hätte ich ihm wieder und wieder gesagt, daß es nicht schlimm ist, daß es nur eine Nacht ohne nur eines der Kuscheltiere ist, hätten wir auch keine Widerstandsfähigkeit aufgebaut. Die Aussage wäre gewesen, daß sein Schmerz gegenstandslos wäre und seine inneren Kämpfe damit nicht ernst genommen werden.
Aber einfach da sein an seiner Seite, während er durch seinen Tunnel rumpelt? Ihm seine Gefühle und den Rausch der Panik zu lassen, um dann ganz von alleine wieder an die frische Luft zu kommen? Das baut Widerstandsfähigkeit auf.
Erinnere Dich an Deine Aufgabe
Wenn also Dein Kind das nächste Mal zutiefst frustriert, wütend oder verärgert ist, erinnere Dich daran, was die eigentliche Aufgabe der Eltern ist.
Die Aufgabe von Eltern ist:
Trost durch die Frustration zu geben
Die reinigenden Tränen unserer Kinder an die Oberfläche zu bringen
Empathie mit den Schwierigkeiten unserer Kinder zu zeigen
Lebenserfahrungen auf natürliche Weise lernen und erleben zu lassen - nicht zu predigen
Den Weg unsere Kinder durch den Tunnel der Gefühle zu begleiten und unterstützen
Die Aufgabe von Eltern ist es NICHT, das Kind möglichst schnell zu beruhigen. Tränen sind ein Zeichen elterlichen Erfolgs, nicht Versagens.
Also massier’ seinen Rücken. Setz’ Dich still mit ihm hin. Bleib’ bei ihm, wie es tschuff-tschuff-tschuff durch den Tunnel der Gefühle tuckert. Und sei bei ihm, wenn es schließlich das ruhige, friedliche Licht am Ende erreicht.